
Von Luise Hensel, 1798-1876, deutsche Dichterin.
Die Flucht der Zeit
Hienieden ward dem Lenze
Ein kurzes Sein verlieh’n:
Kaum wanden wir uns Kränze,
So ist er schon dahin.
Der Sommer währt nicht lange
Mit seiner Sicheln Schall:
Kaum röthet unsre Wange
Der wärm’re Sonnenstrahl.
Bald wird der Himmel trüber,
Die Frucht entfällt dem Baum –
Schon ist der Herbst vorüber,
Wir freuten sein uns kaum.
Nun steigt der Winter nieder
Und schließt des Jahres Reih’n!
Es schweigen alle Lieder.
Er gräbt die Blumen ein.
So eilen unsre Freuden,
So endet alle Lust,
So schwinden auch die Leiden,
Kaum sind wir’s uns bewußt.
Nur was nach oben ziehet,
Das kann nicht untergehn;
Was heilig in uns glühet,
Das wird kein Nord verwehn.
Und dort blühn andre Lenze,
Die nimmermehr entfliehn;
Dort werden ew’ge Kränze
Um unsre Scheitel blühn.
O, laßt dahin uns streben
Schon hier im Schattenland.
All unser Thun und Leben
Sei nur auf Gott gewandt.
